Friedliche Streitbeilegung durch Recht - Alternativen zum "Krieg gegen den Terror"
Redebeitrag von Rechtsanwalt Otto Jäckel
auf der Kundgebung „Den Terror überwinden. Solidarität ja. Krieg nein.“ Am 13.10.2001 in Bonn.
Erstmals hat der NATO-Rat den Bündnisfall nach Art 5 des NATO-Vertrages beschlossen. Der Beschluss ist ergangen, nachdem der Beauftragte der amerikanischen Regierung Francis Taylor den Vertretern der übrigen 18 NATO-Staaten mit Dias und Overheadprojektor Beweise dafür vorgestellt hat, wonach die Terrorangriffe vom 11. September 2001 von außen gekommen seien. Schriftliche Unterlagen seien nicht verteilt worden.1
Woran muss sich dieser Beschluss messen lassen?
Die NATO-Staaten und damit auch die NATO selbst unterliegen dem allgemeinen Gewaltverbot in Art. 2 Abs. 4 der Charta der Vereinten Nationen. Dort heißt es:
"Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt."
Diesem allgemeinem Gewaltverbot und dem Vorrang friedlicher Streitbeilegung hat sich die NATO ausdrücklich in Art. 1 des Nordatlantikvertrags vom 4.4.1949 verpflichtet. Diese Bestimmung lautet wie folgt:
"Die Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist."
Dementsprechend wird die Beistandsverpflichtung in Art. 5 des NATO-Vertrags für den Fall eines bewaffneten Angriffs gegen eine oder mehrere Vertragsparteien ausdrücklich an das in Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen gewährte Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung geknüpft. Maßgeblich für die Feststellung eines Bündnisfalles ist also die Erfüllung der Kriterien eines Ausnahmefalls von dem allgemeinen Gewaltverbot in Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta. Die zwei Ausnahmefälle von dem allgemeinen Gewaltverbot bestehen zum einen in den militärischen Sanktionsmaßnahmen, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach Art. 42 UN-Charta ergreifen kann, wenn alle möglichen friedlichen Sanktionsmaßnahmen nach Art. 41 unzulänglich sein würden oder sich bereits als unzulänglich erwiesen haben und zum zweiten der Selbstverteidigungsfall in Art. 51 UN-Charta, auf den in Art. 5 des NATO-Vertrags verwiesen wird.
Art. 51 UN-Charta garantiert das naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen, bis "der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat."
Es handelt sich hier also um ein ausdrücklich vorläufiges Notwehr- und Nothilferecht gegen einen akuten bewaffneten Angriff. Dieses Notwehr- und Nothilferecht kann nur so lange ausgeübt werden, bis der Sicherheitsrat selbst die geeigneten Schritte zur Konfliktregelung ergriffen hat.2
Das völkerrechtliche Notwehr- und Nothilferecht der Staaten ist also dem innerstaatlichen Notwehrrecht nachgebildet, wie wir es z.B. aus § 32 StGB kennen. Danach ist Notwehr die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.
Auf die zwischenstaatliche Ebene übertragen heißt dies, es muß sich um einen Angriff eines anderen Staates handeln und der Angriff muß gegenwärtig sein.
Was als Angriff unterhalb der Schwelle des Einsatzes regulärer Truppen anzusehen ist, haben die Vereinten Nationen in der "Friendly Relationship Declaration" von 1970 dahingehend präzisiert, dass jeder Staat verpflichtet sei, das Organisieren oder die Unterstützung der Organisation von irregulären Streitkräften oder bewaffneten Verbänden und Söldnern zu unterlassen, die in das Gebiet eines anderen Staates eindringen wollen. Danach hat jeder Staat weiterhin die Pflicht, das Organisieren, Anstiften, Unterstützen oder Teilnehmen an Bürgerkriegsakten oder terroristischen Tätigkeiten in einem anderen Staat oder das Dulden von organisierter Tätigkeit im Hinblick auf die Durchführung solcher Akte auf seinem Gebiet zu unterlassen, sofern die erwähnten Handlungen eine Androhung oder Anwendung von Gewalt mit einschließen.3
Noch schärfere Konturen gaben die Vereinten Nationen dem Begriff der Aggression in der Resolution 3314 (XXIX) vom 14.12.1974. In Art. 3 der Resolution zur Definition des Begriffs Aggression wird der bewaffnete Angriff beispielhaft wie folgt definiert:
die Invasion oder der Angriff durch die Streitkräfte eines Staates auf das Gebiet eines anderen Staates ...
Die Beschießung oder die Bombardierung des Hoheitsgebiets eines anderen Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates ...
Das Entsenden bewaffneter Banden, Gruppen, Freischärler oder Söldner durch einen Staat oder für ihn, wenn sie mit Waffengewalt Handlungen gegen einen anderen Staat von so schwerer Art ausführen, dass sie den oben angeführten Handlungen gleichkommen, oder die wesentliche Beteiligung an einer solchen Entsendung4
Schon ein Angriff durch einen anderen Staat im Sinne der vorgenannten Kriterien ist nach den derzeit vorliegenden und zugänglichen Fakten nicht gegeben.
Zwar scheint es jetzt Ermittlungsergebnisse zu geben, die für eine Beteiligung der Organisation von Osama bin Laden an den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 sprechen. Die Rede ist von einem geheimen 31-seitigen Dossier der US-Regierung.5
Von Beweisen dafür, dass darüber hinaus die afghanische Regierung die Anschlagspläne gekannt und deren Ausführung selbst mit angeordnet hat, ist bis jetzt nichts bekannt geworden.
Der völkerrechtliche Berater der Bundesregierung Prof. Jochen Frowein hält zwar die bislang nur von den USA und Israel vertretene Auffassung für völkerrechtlich vertretbar, wonach das militärische Vorgehen gegen Terroristen auf dem Staatsgebiet anderer Staaten bereits möglich sei, wenn die Angriffsplanung von einer terroristischen Organisation auf dem Gebiet eines fremden Staates ausgehe und dieser fremde Staat nicht bereit sei, die terroristische Aktion entsprechend seinen Verpflichtungen zu unterbinden.6
Ich bin dem entgegen jedoch mit der bisherigen Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag der Auffassung, daß mangelndes Vorgehen eines fremden Staates gegen terroristische Organisationen oder deren Duldung nicht ausreicht, um militärische Aktionen auf dessen Staatsgebiet durchzuführen.7
Der Internationale Gerichtshof hat in seiner Nicaragua-Entscheidung 1986 ausdrücklich festgestellt, daß selbst die Unterstützung nichtstaatlicher Angreifer durch Waffenlieferungen oder durch logistische Hilfen eines fremden Staates für die Annahme eines bewaffneten Angriffs im Sinne des Art. 51 UN-Charta nicht ausreichen (ICJ Reports of Judgements, Advisory Opinions and Orders 1986, S. 14, 62 ff., 104 ff.), vgl. Fn. 1.
Der IGH verurteilte in diesem Verfahren zwar die USA - ein bis heute für die US-Politik traumatisches Erlebnis - jedoch nur wegen den von den USA selbst durchgeführten Aktionen wie etwa der Verminung der nicaraguanischen Häfen. Den von den USA finanzierten, ausgebildeten und ausgerüsteten Contra-Einheiten unterstellte das Gericht eine relative Eigenständigkeit und rechnete deren Aktionen deshalb nicht der US-amerikanischen Regierung zu.
Als weitere Voraussetzung für das Notwehrrecht nach Art. 51 UN-Charta muß der Angriff gegenwärtig sein.
Die Mordanschläge sind nach dem 11. September 2001 nicht fortgesetzt worden. Soweit es eine unbekannte Zahl sogenannter "Sleepers" geben mag, die weitere Anschläge planen, sind diese jedenfalls bislang nicht in Erscheinung getreten oder konnten bereits mit polizeilichen Methoden ermittelt und als Verdächtige verhaftet werden.
Von einem "gegenwärtigen Angriff" konnte jedenfalls zum Zeitpunkt des Beginns der Luftangriffe auf Afghanistan nicht mehr die Rede sein. Sollte es zukünftig weitere Terroraktionen geben, wären diese sicher als neue Vergeltung für die Vergeltung zu begreifen. Damit ist aber auch die zweite notwendige Voraussetzung für das Eingreifen des Notwehrrechts als Ausnahmefall von dem allgemeinen Gewaltverbot nicht gegeben.
Es kommt ein drittes Argument hinzu:
Das Notwehr- und Nothilferecht in Art. 51 UN-Charta gilt ausdrücklich nur, bis der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen selbst in eigener Zuständigkeit die Regelung des Konflikts übernommen hat.
Dies war aber bereits der Fall. Der Sicherheitsrat hat sich bereits einen Tag nach dem Anschlag, am 12.09.2001, mit der Situation befaßt. Der Sicherheitsrat nimmt in der Präambel der Resolution 1368 (2001) zwar Bezug auf das Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit der Charta. In den danach unter den Ziffern 1-6 gefaßten Beschlüssen fehlt jedoch die Feststellung des Selbstverteidigungsfalls nach Art. 51. Der Sicherheitsrat verurteilt vielmehr in Ziff. 1 den schrecklichen terroristischen Angriff von New York und Washington und beurteilt "solche Akte, wie alle Akte des internationalen Terrorismus, als eine Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit". Unter Ziff. 3 ruft er alle Staaten auf, dringend dabei zusammenzuarbeiten, die Terroristen, deren Organisatoren und Helfer vor Gericht zu bringen. Unter Ziff. 5 erklärt der Sicherheitsrat ausdrücklich, dass er bereit sei, alle notwendigen Schritte zur Beantwortung der terroristischen Angriffe vom 11.09.2001 zu unternehmen und alle Formen des Terrorismus zu bekämpfen im Einklang mit seiner Verantwortlichkeit nach der Charta der Vereinten Nationen und unter Ziff. 6 beschließt er am Ende, weiter mit der Angelegenheit befaßt zu bleiben.
Dies hat der Sicherheitsrat auch getan. Am 28.09.2001, beschloss der Sicherheitsrat in einer Nachtsitzung die Resolution 1373 (2001), in der konkrete Schritte vor allem gegen die finanzielle Basis und logistische Unterstützung von Terroristen beschlossen wurden. Entsprechend diesen Anforderungen sind bekanntlich in den letzten Tagen in einer ganzen Reihe von Staaten eine Vielzahl von Konten, von denen vermutet wird, dass sie terroristischen Vereinigungen zuzurechnen sind, eingefroren worden.
Auch in dieser Resolution ist von einer Feststellung des Selbstverteidigungsfalls nach Art. 51 UN-Charta nicht die Rede.
In seiner Rede vom 01.10.2001 betonte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, nur eine internationale Kampagne könne zur Überwindung des Terrorismus führen. Zur Eröffnung der Generalversammlung der Vereinten Nationen drängte er alle Staaten, in dem internationalen Kampf gegen den Terrorismus zusammenzuarbeiten und warnte davor, dass ohne eine solche vereinte globale Aktion die Anstrengungen vergeblich wären. Annan wörtlich: "Der Terrorismus wird besiegt werden, wenn die Internationale Gemeinschaft sich in einer breiten Koalition vereinigt oder er wird überhaupt nicht besiegt werden." Annan weiter: "Die Vereinten Nationen sind in der einzigartigen Lage als Forum für diese Koalition zu dienen und für die Entwicklung der Schritte, die die Regierungen jetzt - einzeln und gemeinsam unternehmen müssen, um den Terrorismus in globalem Maßstab zu bekämpfen."8
Auch in dieser Rede taucht die Autorisierung der USA oder der NATO zu militärischen Handlungen nach Art. 51 UN-Charta nicht auf. Inzwischen hat der Sicherheitsrat nach dem Beginn der Angriffe auf Afghanistan das Vorgehen der USA und Großbritanniens gebilligt.9
Es ist allerdings schon fraglich, ob die wirksame Autorisierung der Kriegsführung durch die USA und die NATO durch den Sicherheitsrat mittels einer Presseerklärung erfolgen kann. Jedenfalls scheint die Position der Sicherheitsratsmitglieder eher politischer Opportunität geschuldet als der Rechtslage.
Die verbindliche rechtliche Bewertung bleibt letztendlich dem Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag vorbehalten; wenn er denn hierzu angerufen würde. Nach seiner bisherigen Rechtsprechung wäre eine Entscheidung zugunsten der Feststellung des Selbstverteidigungsfalls nach Art. 51 UN-Charta nicht zu erwarten.
Zusammenfassend stelle ich fest, dass die rechtlichen Voraussetzungen für eine militärische Aktion der USA oder der NATO und damit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 51 UN-Charta und Art. 5 NATO-Vertrag nicht vorliegen.
Ein vor einem solchen militärischen Einsatz nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erforderlicher Beschluss des Bundestages zur Beteiligung an einem solchen militärischen Einsatz dürfte nicht ergehen.10
Wenn sich die Führung eines Krieges aus rechtlichen Gründen verbietet, was sind dann aber die legalen Handlungsalternativen zur Bekämpfung derer, die in Verdacht stehen, die terroristischen Massenmorde vom 11. September in New York und Washington geplant, unterstützt und durchgeführt zu haben?
Der erste Schritt muß sein: Waffenstillstand! Das Bombardement einstellen! So wie unsere Trauer und unsere Solidarität den Opfern der Massenmorde von New York und Washington gehört, so gehört sie in gleichem Maße den Opfern der Bombardements in Afghanistan! Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind, das in diesen Tagen aus dem Schutt der Twin-Towers in Manhattan oder dem der Ruinenstadt Kabul gezogen wird, ist ein Opfer zu viel. Die Gewaltspirale muß unterbrochen werden!
Der nächste Schritt muß sein: Verhandlungen mit der afghanischen Regierung aufnehmen mit dem Ziel, Osama Bin Laden und alle Personen, die verdächtig sind, die Attentäter vom 11. September angestiftet oder ihnen geholfen zu haben, festzusetzen und vor Gericht zu bringen.
Es ist ein Auslieferungsbegehren an die afghanische Regierung zu richten, in dem die konkreten Fakten und Beweise, die für eine Verhaftung und Auslieferung erforderlich sind, aufgeführt werden. Das Strafverfahren könnte dann in den USA nach dem Tatortstrafrecht durchgeführt werden. Die Regierung der USA hat zwar die Auslieferung verlangt, der afghanischen Regierung jedoch keine Beweise übergeben. Ich frage mich, was die Regierung der USA daran hindert, internationale Standards in dieser Frage einzuhalten.
Sollte die afghanische Regierung sich weiterhin weigern, die Verdächtigen auszuliefern, wäre es zu akzeptieren, wenn die afghanische Regierung in Afghanistan selbst ein Strafverfahren durchführt. Dies hat die Taliban-Regierung angeboten. Auch hierfür ist jedoch die Übergabe der von der amerikanischen Regierung ermittelten Tatsachen und Beweise Voraussetzung.
Sollte sich die afghanische Regierung weigern, bin Laden an die USA auszuliefern oder in Afghanistan ein Strafverfahren durchführen, aber bereit sein, ihn einem neutralen Strafgericht zu überstellen, käme folgendes in Betracht:
Afghanistan könnte die Verdächtigen dem Internationalen Strafgerichtshof überstellen. Dieser ist genau für Straftaten wie Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, um die es hier geht, vorgesehen. Dazu müsste dieser aber erst einmal eingerichtet werden. Nach der Beschlussfassung über das Statut des Gerichtshofs in Rom 1999 fehlt noch die erforderliche Anzahl von Staaten, die den Beitritt ratifiziert haben. Dies liegt vor allem daran, dass die Bush-Regierung massiv gegen die Errichtung des Gerichtshofs Front macht. Warum liegt auf der Hand: Die USA wollen nicht Henry Kissinger oder einen US-General dort auf der Anklagebank sehen. Es könnte nach dem Beispiel der mutmaßlichen libyschen Lockerbie-Attentäter ein Strafgericht in einem neutralen Drittstaat eingerichtet werden, das nach dem US-amerikanischen Recht des Tatorts das Verfahren durchführt. Die beiden libyschen Angeschuldigten wurden bekanntlich in Holland vor Gericht gestellt. Die Richter sind Schotten, die das Verfahren nach schottischem Recht betreiben. Einer der Angeklagten wurde verurteilt und hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Das Berufungsverfahren ist derzeit noch anhängig.
Als dritte Möglichkeit kommt in Betracht,, daß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wie in den Fällen des ad-hoc-Gerichtshofs für Jugoslawien und des ad-hoc-Gerichtshofs für Ruanda einen ad hoc-Gerichtshof für die Verfolgung der terroristischen Attentate einrichtet.
Sollte sich die afghanische Regierung weigern, Osama bin Laden auch einem internationalen Gericht auszuliefern und sich gleichfalls weigern, ihn in Afghanistan vor Gericht zu stellen, könnte wegen des Streitfalls der Internationale Gerichtshof in Den Haag angerufen werden. Voraussetzung wäre, dass die beteiligten Parteien sich für diesen Fall der Rechtsprechung des IGH unterwerfen.
Sollte sich die afghanische Regierung einem solchen Verfahren nicht unterwerfen oder sich weigern, eine von dem IGH erlassene Eilverfügung oder ein Urteil bezüglich der Auslieferungsverpflichtung zu vollziehen, hätte es der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach den Artikeln 41 und 42 UN-Charta in der Hand, zunächst friedliche und sodann militärische Sanktionsmaßnahmen gegen Afghanistan durchzuführen mit dem Ziel, die Auslieferung durchzusetzen.
Bei diesen Maßnahmen wäre auch nicht die in der Vergangenheit oft beklagte Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrats durch das Veto eines der ständigen Mitglieder zu befürchten. Bei der Bekämpfung des Terrorismus sind sich die Mitglieder des Sicherheitsrats einig. Der Sicherheitsrat könnte in dieser Frage also effektiv agieren.
Für den Fall, dass der UN-Sicherheitsrat letztendlich gewaltsam gegen die afghanische Regierung vorgehen müsste, wäre Deutschland erstmals gefordert, der UNO nicht nur Blauhelmtruppen zur Verfügung zu stellen, sondern Kampftruppen.11
Das Gewaltmonopol der UNO bliebe dann jedoch gewahrt.
Was wir jetzt erleben ist der Ausstieg aus dem Gewaltmonopol der UNO - ein gefährlicher historischer Rückschritt.
Was wir jetzt erleben, ist eine Vergeltungsaktion, bei der mutmaßliche Straftäter durch Bomben oder militärische Kommandoaktionen getötet werden sollen. "Dead or alive" - das ist Selbstjustiz.
Was wir jetzt erleben ist Geopolitik, bei der die Karten in Afghanistan neu gemischt werden. Die USA haben die Taliban im Krieg gegen die sowjetischen Truppen mit 3,3 Milliarden Dollar aufgebaut und unterstützt.12
Ihre militärische Vertreibung von der Macht durch die NATO ist - so sympathisch diese manchem von uns wäre - vom Völkerrecht nicht gedeckt und hat mit Selbstverteidigung nichts zu tun.
An alledem darf sich unser Land, dürfen sich die Soldaten der Bundeswehr nicht beteiligen.
Wenn wir von anderen zu Recht den Verzicht von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung verlangen, müssen wir uns zunächst selbst strikt an das völkerrechtliche Gewaltverbot halten. Mit der Anwendung von „double standards“ wird dem Terrorismus die Basis nicht entzogen.
Der einzig begehbare Weg zu globalem Frieden und Zusammenarbeit ist der über die Vereinten Nationen.13
Otto Jäckel ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht und Verwaltungsrecht In Berlin und Wiesbaden (www.jaeckel-rechtsanwaelte.de) sowie Vorsitzender der International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) Deutschland (www.ialana.de).
1Die neue Allianz, Der Spiegel Nr. 41/2001. S.22
2vgl. Ran Delzhofer in Simma, Charta der Vereinten Nationen 1991 Art. 51 Rn. 36
3Erklärung über die Grundsätze des Völkerrechts betreffend die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit unter den Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen, Resolution 2625 (XXV)vom 24. Oktober 1970 der UN-Generalversammlung, UN Doc. A/L 600, Annexe, S.8 ff, zitiert nach Müller/Wildhaber, Praxis des Völkerrechts, 2. Auflage Bern 1982, S.493, 494
4Resolution 3314 (XXIX) vom 14.12.1974 zitiert nach Knippig/ von Mangoldt/ Rittberger, Das System der Vereinten Nationen und seine Vorläufer Bd.I Dokument 14 S.313 ff.
5Der Spiegel, 41/2001, S.34
6Frowein, Jochen, Terroristische Gewalttaten und Völkerrecht - Über das naturgegebene Recht der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung, FAZ, 15.9.2001, S. 10
7ebenso Ipsen, Knut, Völkerrecht 4. Auflage 1999, S. 948, der einen bewaffneten Angriff im Sinne des Artikel 51 UN-Charta auch dann nicht als gegeben ansieht, wenn terroristische Aktionen gegen einzelne Staatsangehörige oder Gruppen von Staatsangehörigen auf fremdem Territorium verübt werden und ein dritter Staat vermuteter Maßen oder bewiesen die terroristischen Aktionen unterstützt. Als Beispiele nennt Ipsen den US-Bombenangriff auf Bengasi und Tripolis am 15.4.1986, der als militärische Antwort auf die libysche Verwicklung in den Bombenanschlag auf die Berliner Discothek "La Belle" am 5.4.1986 durchgeführt wurde. Diese seien ebenso wenig als Selbstverteidigungsmaßnahme zu rechtfertigen wie der US-Raketenangriff auf Ziele im Irak 1993, der als Reaktion auf einen irakischen Plan bezeichnet worden war, US-Präsident Bush bei seinem Besuch in Kuweit ermorden zu lassen oder die Angriffe der USA auf den Sudan und Afghanistan 1998
8Press Release GA/9919 1 October 2001
9Am 8.10.2001 nahm der Sicherheitsrat den Bericht der USA und Großbritanniens zu den bisherigen Aktionen ihrer Streitkräfte in Afghanistan zur Kenntnis, ohne dass eines der Mitglieder Einwendungen gegen die Position der USA erhob, es handele sich um eine Maßnahme nach Artikel 51 UN-Charta. "The permanent Representatives made it clear that the military action that commenced on 7 October was taken in self-defence and directed at Terrorists and those who harboured them." (Press Release AFG 152 SC/7167 8 October 2001)
10Aus den Vorschriften der Art. 115a Abs.5, Art. 115b, Art. 115l Abs.3 und Art.87a Abs.3 GG sowie aus deutscher Verfassungstradition folgt, dass das Parlament jedem militärischen Einsatz der Streitkräfte im Einzelfall vorher zustimmen muß. Dies gilt nicht nur im Fall der Erklärung des Verteidigungsfalls, sondern bei jedem militärischem Einsatz der Streitkräfte, auch im Rahmen der NATO (vgl. Pieroth in Jarass/Pieroth GG, 5.Auflage 2000, Art.87a Rn. 9). Nur bei Gefahr im Verzug kann die Regierung vorläufig selbst entscheiden, muß aber umgehend den Bundestag für eine endgültige Entscheidung beteiligen (BVerfGE 90, 286, 388 )
11zum aktuellen Stand der Auseinandersetzung um den Aufbau ständiger Kampftruppen der Vereinten Nationen siehe Bauer, Andreas, Effektivität und Legitimität, Die Entwicklung der Friedenssicherung durch Zwang nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen unter besonderer Berücksichtigung der neueren Praxis des Sicherheitsrats, Berlin 1996 S. 76 ff.
12zvgl. Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen : Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 5. Auflage 1997 S. 401
13Das norwegische Nobel-Komitee zur Begründung der Vergabe des Friedensnobelpreises an die Vereinten Nationen und Kofi Annan, dokumentiert in Frankfurter Rundschau 13.10.2001, S. 6
13.10.2001.
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