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Silvia Gingold und ihr Kampf gegen den Verfassungsschutz

Silvia Gingold, 72 Jahre alt, ehemalige Lehrerin, wird seit ihrem 17. Lebensjahr vom Verfassungsschutz beobachtet, weil sie als linksextrem gilt. Dagegen hat sie geklagt. Sie will, dass ihre Beobachtung endlich eingestellt wird.

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Das Feature

Unter Beobachtung
Silvia Gingold und ihr Kampf gegen den Verfassungsschutz

Autorin: Christine Werner
Regie: Axel Scheibchen
Redaktion: Wolfgang Schiller
Produktion: Dlf 2019
Erstsendung: Dienstag, 02.04.2019, 19.15 Uhr


Mitwirkende: Hildegard Meier Axel Gottschick Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich gesch¸tzt und darf vom Empf‰nger ausschliefllich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielf‰ltigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die ¸ber den in ßß 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzul‰ssig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo Gesang Sprecher [¸ber Atmo] Stuttgart-Bad Cannstatt, 9. November 2018. Fr¸her Abend, am Platz der ehemaligen Cannstatter Synagoge. O-Ton 1, Ank¸ndigung Rede Silvia Gingold Und damit heifle ich unseren heutigen Gast willkommen, Silvia Gingold, sie wird nachher auch im Rathaus lesen und Fragen beantworten. Frau Gingold ist die Tochter der Widerstandsk‰mpfer Ettie und Peter Gingold ... Erz‰hlerin [¸ber O-Ton 1] Ein schlichter Granitstein erinnert heute an die Synagoge. Der n‰chste Programmpunkt bei diesem Gedenken an die Reichspogromnacht von 1938 ist die Rede von Silvia Gingold. Sie steht noch etwas abseits, eine kleine, zierliche Frau, 72 Jahre alt, Lehrerin in Rente. Freundlich, zur¸ckhaltend, so lerne ich sie kennen. Diese Frau gef‰hrdet den Rechtsstaat, ist eine Staatsfeindin, so sieht es der hessische Landesverfassungsschutz. O-Ton 2, Ank¸ndigung Rede Silvia Gingold ... sie weifl, was politischer Kampf auch in der Gegenwart bedeutet. Wegen ihres antifaschistischen und friedenspolitischen Engagements steht sie bis heute unter Beobachtung unseres sogenannten Verfassungsschutzes (Pfiffe, Buhrufe ....) Sie ist aus Kassel zu uns gekommen ... Wir begr¸flen ganz herzlich Silvia Gingold. (Applaus) Erz‰hlerin [schon ¸ber O-Ton] Die Veranstaltung wurde von einem B¸ndnis verschiedener Gruppen organisiert, darunter die "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten". Silvia Gingolds Vater hat die Vereinigung mitgegr¸ndet. Aus seiner Biografie wird sie nach der Gedenkveranstaltung lesen. O-Ton 3, Silvia Gingold Vielen Dank f¸r die herzliche Begr¸flung und die f¸r die Einladung, hier an der Gedenkveranstaltung teilnehmen zu kˆnnen. Es wurde schon gesagt, ich komme aus einer j¸dischen Familie, die von den Nazis verfolgt wurde und 1933, nach dem Machtantritt Hitlers, nach Frankreich fl¸chtete. Meine Eltern schlossen sich der Franzˆsischen Widerstandsbewegung gegen Hitler, der Resistance an, mein Vater geriet in die F‰nge der Gestapo, wurde schwer gefoltert und konnte nur durch Flucht ¸berleben ... Atmo Lesung Erz‰hlerin [¸ber Atmo] Bei ihrer Lesung sp‰ter im Bezirksrathaus ist der Saal voll, im Publikum sitzen viele ‰ltere Menschen, darunter Freunde und Weggef‰hrten. Gegen 21 Uhr w‰re Zeit f¸r Fragen - es fragt aber niemand, f¸r die meisten hier ist es schon sp‰t. W‰hrend sich der Saal leert, signiert Silvia Gingold ein paar B¸cher. Und sagt mir dann, dass vermutlich auch dieser Auftritt als Beleg in den Akten des Verfassungsschutzes landen wird. Ansage Unter Beobachtung Silvia Gingold und ihr Kampf gegen den Verfassungsschutz Ein Feature von Christine Werner Atmo 3 - Bl‰ttern Sprecher Kassel, Stadtmitte, die Wohnung von Silvia Gingold. Erz‰hlerin [¸ber Atmo] In ihrem Wohnzimmer macht Silvia Gingold Platz auf dem Tisch, legt B¸cher, Ordner und Akten bereit. Seit ihrem 17. Lebensjahr wird sie bespitzelt - womˆglich mit Unterbrechungen - jetzt klagt sie gegen den hessischen Landesverfassungsschutz. Dass sie diesen Kampf auf sich nimmt, h‰ngt mit ihrer Familiengeschichte zusammen, mit der Geschichte ihrer Eltern. ‹ber dem Sofa im Arbeitszimmer h‰ngen ihre Portr‰ts, grofle, gerahmte Linoldrucke. Jung sind sie da, ihre Gesichter schauen einen direkt an. O-Ton 5, Silvia Gingold Ihr Ausdruck zeigt, dass sie sehr gut wissen was sie wollen und auch ganz klar Position beziehen. Ich denke, das strahlen sie da schon sehr aus. Ich habe ja meine Eltern so nicht kennengelernt, aber gerade in den sp‰teren Jahren, als ich selbst politisch aktiv wurde, da waren sie immer an meiner Seite und auch immer sehr ¸berzeugt offensiv aufgetreten, sehr konsequent in ihren Positionen und haben mich dadurch auch gepr‰gt. Erz‰hlerin Ihr Vater Peter Gingold: Jude, Kommunist und Widerstandsk‰mpfer. 1916 als Sohn eines Schneiders in Aschaffenburg geboren, mit f¸nf Geschwistern dann aufgewachsen in Frankfurt am Main. Nach der Schule, 1930, findet er wie viele andere zun‰chst keine Lehrstelle, ist ersch¸ttert von der Massenarbeitslosigkeit. Mit 14 kommt er zuf‰llig in die Gewerkschaftsjugend und dar¸ber in eine kommunistische Jugendgruppe. Er beteiligt sich an Aktionen gegen Hitler, entfernt Hakenkreuze, verteilt Flugbl‰tter - bis die Familie fliehen muss. Im Hˆrfunkarchiv gibt es Aufnahmen von ihm. O-Ton 6, Peter Gingold Ich hˆrte immer das Grˆlen von Braunhemden mit Hakenkreuzen am ƒrmel, die grˆlten: Deutschland erwache, Juda verrecke, Rotfront verrecke, heute gehˆrt uns Deutschland und morgen die ganze Welt. Und wenn alles zusammenf‰llt und wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht es uns nochmal so gut. Erz‰hlerin Im Exil in Frankreich lernt Peter Gingold seine sp‰tere Frau Ettie kennen. Beide unterst¸tzen vom Ausland aus den Kampf gegen Hitler. O-Ton 7, Peter Gingold ... mein eigener Anteil mit meiner Frau und einer Reihe von Deutschen war wesentlich, Aufkl‰rungsschriften herzustellen in deutscher Sprache - nat¸rlich gerichtet an die deutschen Soldaten und Offiziere - und sie aufzufordern, Schluss zu machen mit dem Krieg, Deutschland zu retten, damit es nicht vˆllig untergeht, in den Untergang getrieben wird ... Erz‰hlerin [schon Musik drunter anfangen] Zwei Geschwister von Peter Gingold werden in Auschwitz ermordet. Er selbst wird verhaftet, schwer gefoltert und entkommt in Paris nur mit viel Gl¸ck der Gestapo. In seiner Biografie "Paris - Boulevard St. Martin No. 11" hat er beschrieben, wie er die SS-M‰nner in eine Falle locken und durch einen Hinterausgang fliehen konnte. Hannes Wader hat ihm ein Lied gewidmet, es heiflt - wie die Biografie - nach der Strafle, in der die Flucht gelang. Musik 1 - Ausschnitt Lied Hannes Wader, [Musiktext:] Aus den Augenwinkeln sieht er dann so im Vor¸bergehn den Eingang von Haus Nummer 11 einen Spalt breit offen stehn ... Erz‰hlerin Nach dem Krieg gehen Peter und Ettie Gingold zur¸ck nach Deutschland. Sie wollen das Land wieder mit aufbauen. Nach Verfolgung, Holocaust und NS-Diktatur mit Parteien-und Gewerkschaftsverboten, hoffen sie auf einen politischen Neuanfang. O-Ton 8, Silvia Gingold Als dann meine Eltern 1945 aus der Emigration wieder nach Deutschland zur¸ckkamen und geglaubt haben, dass jetzt ein demokratisches Deutschland entsteht, mussten sie dann weiter bittere Erfahrung machen, dass wieder Menschen verfolgt werden, ja, aufgrund ihrer politischen Einstellung. Erz‰hlerin In Frankreich werden die Gingolds nach dem Krieg von der Regierung als Widerstandsk‰mpfer ausgezeichnet. In der Bundesrepublik geraten sie als Kommunisten ins Visier des Verfassungsschutzes. Peter Gingold ist zuerst Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, KPD, nach deren Verbot Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei, DKP. Und er ist 1947 Mitgr¸nder der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes", kurz VVN. Aus ihrer Geschichte heraus engagiert sich die Familie gegen Krieg und Faschismus. Silvia Gingold begleitet ihre Eltern als Jugendliche auf Demonstrationen. Auf einem Foto sieht man sie als 16-J‰hrige auf einem Ostermarsch, sie tr‰gt ein Plakat um den Hals - es erinnert an den Atombombenabwurf auf Hiroshima. Auch sie wird vom Verfassungsschutz erfasst, ein Jahrzehnt sp‰ter als junge Lehrerin aus dem Schuldienst entlassen und bekommt 1975 Berufsverbot. O-Ton 9, Silvia Gingold Die Grundlage meines Berufsverbots waren Erkenntnisse des Verfassungsschutzes, die dieses Amt seit meinem 17. Lebensjahr gesammelt hat. Die wurden mir vorgelegt, vor meinem Berufsverbot wurde ich zu einer Anhˆrung geladen im Regierungspr‰sidium in Kassel, und dort wurde mir vorgehalten, dass Zweifel an meiner Verfassungstreue aufgekommen sind und die waren begr¸ndet durch die so genannten Erkenntnisse des Verfassungsschutzes. Und das waren zum Beispiel Teilnahme an Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam, Flugblatt Verteilungen, Flugblatt Unterzeichnung, Reisen in die DDR. Alles ganz minutiˆs aufgelistet mit Ort und Uhrzeit ... Erz‰hlerin Der sogenannte Radikalenerlass trifft sie, inzwischen Mitglied der DKP, wie viele Linke und Kommunisten. Die Regierung von Willy Brandt will damit die angeblichen Verfassungsfeinde im ˆffentlichen Dienst verhindern. Knapp 3,5 Millionen Studenten, Juristen, Lehrer, sonstige Bewerber und Besch‰ftigte des ˆffentlichen Dienstes werden durchleuchtet, ihre "politische Zuverl‰ssigkeit" wird beim Verfassungsschutz abgefragt, rund 11.000 Berufsverbotsverfahren werden eingeleitet. Eine konkrete verfassungsfeindliche Tat wird kaum einem Betroffenen vorgeworfen, auch Silvia Gingold nicht. O-Ton 10, Silvia Gingold Wenn ich daran denke, wie viele Nazi-Verbrecher sp‰ter wieder in hohe ƒmter kamen, die durch ihre konkrete T‰tigkeit bewiesen haben, dass sie Gesetze brechen oder dass sie Verbrechen ¸berhaupt aus¸ben. An ihnen hat es nie Zweifel an ihrer Verfassungstreue gegeben. Die waren wieder in hohen ƒmtern. Bis in die Spitzen der Politik und der Verwaltung, in der Justiz, in der Schule ¸berall. Und viele von uns vom Berufsverbot Betroffenen wurde der ˆffentliche Dienst verwehrt, weil sie sich in Zukunft vielleicht aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer linken oder marxistischen Organisation verfassungswidrig verhalten kˆnnten. Das ist eigentlich ungeheuerlich. Erz‰hlerin Bis zu ihrem Berufsverbot unterrichtete sie Franzˆsisch und Sozialkunde, hatte eine f¸nfte Klasse, war beliebt. Die Schule protestierte gegen ihre Entlassung, ihre Klasse schrieb Briefe an den Kultusminister. Ohne Erfolg. Die Politik blieb hart. O-Ton 11, Dominik Rigoll Also ich glaube, die basale Argumentation, daf¸r braucht man nicht Jurist sein, um die zu denken, war das klassische: Geht doch r¸ber. Also wenn es euch hier nicht passt, in der Bundesrepublik, ihr wollt Kommunisten sein, hey, es gibt einen anderen kommunistischen Staat, da kˆnnte ihr gerne Lehrer werden und so weiter und so fort. Und ich denke, das war in der Bundesrepublik ein relativ verbreitetes, antikommunistisches Ressentiment ... Erz‰hlerin Dominik Rigoll ist Historiker am Zentrum f¸r Zeithistorische Forschung in Potsdam. Er hat ¸ber den Verfassungsschutz promoviert. O-Ton 12, Dominik Rigoll Glaubw¸rdigkeitsdefizit ... und den Kommunisten wurde abgesprochen, was Kommunisten in anderen L‰ndern, westlichen L‰ndern konnten, n‰mlich innerhalb dieser L‰nder f¸r eine, ja eine andere Gesellschaft einzutreten, wie sie meinten, demokratischere, sozialistischere, antikapitalistischere Gesellschaft. Was unterm Strich so war. Also die haben sich ja dann nicht f¸r eine Ein-Parteien-Diktatur eingesetzt oder haben die nicht realisiert, aber gleichzeitig muss man schon sehen, und das ist das zweite Argument, warum man diese Leute als Verfassungsfeinde abgestempelt hat, dass wenn man an Moskau orientierten oder Ost-Berlin orientierten Parteien, wenn man sich da engagierte in den 60er, 70er-Jahren, dann war das Vorbild, waren die sozialistischen Staaten des Ostblocks und die sind nun nicht besonders frei gewesen. O-Ton 13, Silvia Gingold Zun‰chst mal war es ja so, dass nach 45 bzw. 49, als die Bundesrepublik und die DDR gegr¸ndet wurden, in der DDR, dass im Gegensatz zur Bundesrepublik dort eine wirkliche Entnazifizierung stattgefunden hat und dass damals dort in den hohen ƒmtern die Widerstandsk‰mpfer gesessen haben. Also zum Teil ganz enge Freunde meiner Eltern. Die hatten dort den Einfluss, im Gegensatz zur Bundesrepublik. Und wir hatten die grofle Hoffnung, dass dort eine bessere Gesellschaft entsteht, ja, wo wirklich jeder seine Meinung sagen darf, keiner verfolgt wird, sich keiner am anderen bereichern kann und so weiter. O-Ton 14, Rundfunk der DDR, Stimme der DDR Erkennungsmelodie, Klatschen: "Geschichten in Rot - von Antifaschisten erz‰hlt". 15. Folge: Die Gingolds. Erz‰hlerin [auf Erkennungsmusik nach Ansage] Im Archiv findet sich auch eine Sendung des Rundfunks der DDR. "Die Stimme der DDR" ausgestrahlt im Dezember 1979. Weiter O-Ton 14, Ausschnitt Rundfunk der DDR, Stimme der DDR ... weiter Moderation: Alle guten Deutschen kommen in den Himmel, Hallelujah. Und die anderen? Kriegen ¸bers Telefon Bescheid. O-Ton Silvia Gingold damals: Ja, anonyme Anrufe habe ich sehr oft gehabt. Meine Eltern auch. Zum Beispiel du Kommunistenschwein, dich werden wir auch noch vergasen. Aber das sind eigentlich Sachen, die mir nicht neu waren, auch meinen Eltern nicht neu waren, wo wir eigentlich immer sehr gelassen reagiert haben. Moderation: Sie werden sagen, L‰use sollte man vergasen, Wanzen, also Tiere, weshalb aber ein Wesen, dass zumindest der Stimme nach ein Mensch zu sein scheint ... Erz‰hlerin Silvia Gingold klagt gegen ihr Berufsverbot. Ihr Fall macht Schlagzeilen, auch im Ausland. Unterst¸tzung kommt vor allem aus Frankreich. Der damalige Vorsitzende der Sozialistischen Partei, FranÁois Mitterrand, setzt sich f¸r sie ein und schreibt einen Brief an Willy Brandt. Der ˆffentliche Druck bewirkt, dass sie wieder als Lehrerin arbeiten kann. Aber sie darf in Hessen keine Beamtin mehr werden. 1976 f‰ngt sie an einer kleinen Schule in Nordhessen an. In der "Stimme der DDR" erz‰hlt Silvia Gingold, was ihr als Lehrerin wichtig war. O-Ton 15, Rundfunk der DDR, Stimme der DDR, Silvia Gingold Ich habe mir vorgestellt, dass ich als Lehrer dazu beitragen kann Sch¸ler zum selbst‰ndigen und kritischen Denken zu erziehen. Dass sie Dinge in die Hand nehmen, selbst organisieren, Bed¸rfnisse ‰uflern, auch in der Klasse demokratisch mitbestimmen, auch den Unterricht irgendwo mitgestalten und mitbestimmen. Dass nicht nur diese Autorit‰tsperson Lehrer alleine den Unterricht bestimmt, sondern dass die Sch¸ler zu einem Groflteil mit einbezogen werden ... O-Ton 16, Dominik Rigoll [erster Satz fehlt beim O-Ton, liefere ich nach] Die 68er in den Institutionen, die haben die Leute genervt, die waren anstrengend, und sozusagen lebensweltlich gesehen, waren die auch eine Bedrohung. Wenn du ein alter Nazi bist und so ein 68er vor dir stehen hast, der alles ausdiskutieren will, dann ist das eine Bedrohung. Ich will die Wahrnehmung schon auch ernst nehmen ... dass man dachte, ja, Kommunisten sind die Bˆsen, Linke sind die Bˆsen und das ist mit Demokratie unvereinbar und mit Freiheit sowieso .... Erz‰hlerin Der Rektor und das Kollegium stehen hinter Silvia Gingold. Die Presse aber macht Stimmung gegen "die Kommunistin" und die CDU fordert Eltern auf, ihre Kinder von der Schule zu nehmen. Auflerdem sind bald Kommunalwahlen - da wird mit allen Mitteln gek‰mpft ... O-Ton 17, Silvia Gingold ... und die CDU gab ein W¸rfelspiel heraus. Das hiefl "Fahr mit durch den Schwalm-Eder-Kreis". Da musste man sich durch einzelne Ortschaften w¸rfeln. Und wenn man auf dem Ort meiner Schule zu stehen kam, da hiefl es "Spieler setzt einmal aus und schreibt einen Brief an Kultusminister, um gegen die Kommunistin zu protestieren". Dazu muss man sagen, wer spielt so ein W¸rfelspiel. Das sind wahrscheinlich in erster Linie auch Kinder. Soweit zum Vorwurf, der mir immer unterstellt wurde, von wegen Indoktrination. F¸r mich war das eine ganz schlimme Hetze. Und dieser Wind schlug mir von vornherein entgegen. Und das war f¸r mich ganz schwer, ja. Erz‰hlerin Als sich 2012 der Radikalenerlass zum 40. Mal j‰hrt, fordern die Betroffenen ihre Rehabilitierung. Und sie wollen wissen: Was hat der Verfassungsschutz ¸ber uns gespeichert? Was ist in den Akten? Auch Silvia Gingold fragt nach und erf‰hrt ... O-Ton 18, Silvia Gingold ... dass ich seit dem Jahr 2009 im Bereich Linksextremismus gespeichert sei. Und da wurden mir zwei Dinge vorgehalten: Einmal dass ich Lesungen aus der Biografie meines Vaters mache und zwar im Rahmen von Veranstaltungen der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes", VVN, Bund der Antifaschisten. Und die zweite Sache war, dass ich im Jahr 2012 eine Rede zum 40. Jahrestag des Radikalenerlasses gehalten habe in Frankfurt am Main. Erz‰hlerin Sie beschlieflt den Verfassungsschutz zu verklagen. Atmo 4 - Gericht, Sicherheitsmann Sicherheitsmann: Bitte f¸nf Personen eintreten, auf dieser Seite bleiben. Das sind schon sieben. Es kommt jeder dran. Jetzt kommen sie mal durch Frau Gingold. - Sehr individuell, anders als in Wiesbaden. - Frau Gingold! Sind sie so lieb und gehen auf diese Seite, weil ich hier immer f¸nf sammle. Sonst bei der Masse, sie verlieren irgendwann den ‹berblick. So, n‰chste. Sprecher 19. September 2017, Verwaltungsgericht Kassel. Erz‰hlerin [¸ber Atmo] Vor der Sicherheitskontrolle dr‰ngen sich Freunde, Weggef‰hrten, Unterst¸tzer: vom Berufsverbot Betroffene, ehemalige Kolleginnen und Kollegen, Gewerkschafter, Mitglieder der VVN. Auch die Medien sind da. Silvia Gingold geht fast etwas unter in der Menge. Offiziell heiflt der Prozess: "Silvia Gingold gegen das Land Hessen, vertreten durch das Landesamt f¸r Verfassungsschutz Hessen". O-Ton 19, Otto J‰ckel [Atmo davor] Hier geht es heute um die Lˆschung der Daten, die vom Landesamt f¸r Verfassungsschutz ¸ber Frau Gingold gespeichert worden sind. Das ist der Gegenstand und der zweite Antrag besch‰ftigt sich damit, dass die Beobachtung eingestellt werden soll ..." Erz‰hlerin Otto J‰ckel, der Anwalt von Silvia Gingold. O-Ton 20, Otto J‰ckel Entscheidend ist f¸r meine Mandantin, dass sie sagt: Ich gef‰hrde nicht den Rechtsstaat. Ich habe nicht vor die Demokratie abzuschaffen. Ich habe nicht vor die Gewaltenteilung abzuschaffen. Ich habe mich nie in dieser Richtung jemals in meinem ganzen Leben ge‰uflert. Noch viel weniger irgendetwas in diese Richtung unternommen. Insofern bin ich hier der falsche Adressat einer solchen Beobachtung und meine, dass das alleine dazu dient, mich politisch zu diskriminieren und diskreditieren. Atmo 5 - Gericht Erz‰hlerin [¸ber Atmo] Der Jurist des hessischen Verfassungsschutzes baut auf seinem Tisch Gesetzesb¸cher vor sich auf. Die Richterinnen und Richter erscheinen, drei hauptamtliche, zwei ehrenamtliche, Kameras und Aufnahmeger‰te m¸ssen ausgeschaltet werden. Zwei Stunden wird verhandelt. Dann ziehen sich die Richter zur Beratung zur¸ck. Auf dem Flur diskutieren Freunde und Besucher. Atmo 6 - Diskussion Flur O-Ton 21, ehemalige Kollegin Frau Gingold ist eine Kollegin, mit der ich 20 Jahre zusammengearbeitet habe, und die ich immer als integere und engagierte Kollegin erlebt habe, und ich kann sehr gut nachf¸hlen, was es f¸r sie persˆnlich bedeutet, davon auszugehen, dass im Umfeld irgendwer sie bespitzelt. Wenn sie eine E-Mail, die sie mir schickt, eigentlich schon ¸berlegen muss, wem schicke ich die jetzt, weil, den ziehe ich da mit hinein, und das ihr ganzes persˆnliches Leben betrifft und dass das hier gew¸rdigt w¸rde, das h‰tte ich mir schon gew¸nscht. Erz‰hlerin [¸ber Atmo Gerichtssaal] Der Beratungsbedarf unter den Richtern ist grofl. Dann wird klar: Ein Urteil wird an diesem Tag nicht gesprochen. Atmo 7 - Gericht, Urteil nicht [Einstieg bei 0:55] ... die Entscheidung wird dann zugestellt. Ich gehe davon aus, eher in Wochen statt in Tagen. Wird schriftlich zugestellt ...das Gericht muss ¸ber die Klage insgesamt entscheiden ... Erz‰hlerin Otto J‰ckel bekommt es zwei Wochen sp‰ter per Fax. Silvia Gingolds Klage wird abgewiesen. Das Gericht in Kassel schlieflt sich den Argumenten des Verfassungsschutzes an. Der sagt, Silvia Gingold werde nicht persˆnlich beobachtet sondern als "Beifang" von Vereinigungen, die der Verfassungsschutz als linksextremistisch einordnet. Und er wirft ihr vor, dass sie sich von solchen Gruppierungen einladen lasse - und mit ihrer Familiengeschichte Werbung f¸r diese mache. Im Urteil heiflt es: Zitator Urteil F¸r die Bewertung, ob das Halten eines Vortrags zum Thema "40 Jahre Berufsverbote in der Bundesrepublik Deutschland" eine extremistische Bestrebung darstellt, geht es (...) nicht allein um den Inhalt des Vortrages der Kl‰gerin, sondern auch darum, zu welchem Anlass und in welchem Umfeld dieser gehalten worden ist. (...) Hierbei zieht das Gericht in Betracht, dass die Kl‰gerin wegen der relativen Bekanntheit ihres Namens als Tochter eines Widerstandsk‰mpfers gegen den Nationalsozialismus quasi als Magnet f¸r Personen gewirkt hat, die den Zielen der Veranstalter bislang eher ferngestanden haben. Atmo 8 - Metzner O-Ton 23, Mathias Metzner ... das Landesamt kann Daten erheben auf der Grundlage seiner Aufgabenstellung und die ist definiert: ... Erz‰hlerin Mathias Metzner ist Vize-Pr‰sident des Verwaltungsgerichts Kassel und stellvertretender Pressesprecher. Er will das Urteil gern erl‰utern, wird die Arbeit der Kollegen aber nicht werten, sagt er und zitiert Paragraf 2 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes. Danach kann der Verfassungsschutz Daten sammeln, um rechtzeitig Gefahren abzuwehren .... O-Ton 26, Otto J‰ckel Hier wird sozusagen eine Br¸cke geschlagen, von den Meinungen und der politischen Bet‰tigung der Frau Gingold selbst, die vˆllig aufler Betracht bleibt, zu unterstellten extremistischen Bestrebungen anderer ... Erz‰hlerin Otto J‰ckel h‰lt die Beobachtung und Datensammlung f¸r verfassungswidrig. O-Ton 27 A, Otto J‰ckel ... denn hier werden die verfassungsm‰fligen Rechte von Frau Gingold verletzt. Ihr Recht auf freie Meinungs‰uflerung und auf Organisationsfreiheit. Erz‰hlerin F¸r ihn stehen politische Gr¸nde dahinter. O-Ton 27 B, Otto J‰ckel Im Grunde genommen sollen Personen, die bestimmte politische Auffassungen vertreten, so aus dem politischen Diskurs, aus dem Meinungsspektrum im Grunde genommen, entfernt werden und isoliert werden. Und das halte ich f¸r einen ganz massiven unzul‰ssigen Eingriff in die freie Meinungs‰uflerung und in das freie Spiel der politischen Kr‰fte. Erz‰hlerin Das Problem f¸r Silvia Gingold und ihren Anwalt ist: Sie wissen nicht, was der Verfassungsschutz alles ¸ber sie gesammelt hat. Einen Groflteil der Akten gibt das Amt nicht heraus oder Papiere sind geschw‰rzt. Und es ist fast aussichtslos zu erfahren, was es ¸berhaupt an Material gibt. Denn der Verfassungsschutz legt auch dem Gericht nicht alles vor. O-Ton 28 A, Mathias Metzner Wir bekommen zun‰chst mal ¸berhaupt keine Akten. Die Behˆrde verweigert die Vorlage der Akten und kann das nach Paragraf 99 VwGO unter bestimmten Voraussetzungen tun ..... O-Ton 28 B, Mathias Metzner Ich w¸rde das jetzt einfach mal zitieren: Die Vorlage der Akten kann dann verweigert werden, wenn ... Erz‰hlerin Es geht um Gef‰hrdung von Bund und L‰ndern und um Geheimhaltungsbed¸rfnisse. In einem nicht ˆffentlichen Verfahren, dem sogenannten In-Camera-Verfahren, hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof die Sperrungen und Schw‰rzungen ¸berpr¸ft - und zum Groflteil best‰tigt. W¸rden die Schw‰rzungen aufgehoben, sei die Arbeit der Geheimdienste behindert, heiflt es. F¸r das Gericht ist die Entscheidung bindend. Es kann deshalb nicht ¸ber die Lˆschung der Daten urteilen, sagt Mathias Metzner. O-Ton 29, Mathias Metzner Da man das nicht weifl, was das Landesamt im ‹brigen ¸ber die Kl‰gerin gespeichert hat, kann man auch nicht dar¸ber entscheiden. die Kl‰gerin m¸sste dann in diesem Fall auch erst einmal darlegen, was hat das Landesamt f¸r Daten von mir - was sie grunds‰tzlich nat¸rlich auch in diesem Fall nicht kann. Atmo 9 - Bl‰ttern O-Ton 30, Silvia Gingold Da gab es sozusagen eine Sperr-Erkl‰rung und da ¸ber 100 Seiten geschw‰rzt waren, musste jede Seite begr¸ndet werden, warum sie geschw‰rzt ist. Da gibt es ein paar beispielhafte Erkl‰rungen: Es steht zu bef¸rchten, dass auch die eingeschr‰nkte Bekanntgabe der Deckblatt-Meldungen aus diesem Bereich, das Beobachtungsobjekt und das damit verbundene Aufkl‰rungsinteresse des Landesamtes f¸r Verfassungsschutz offenbaren w¸rde ... Erz‰hlerin Am Esstisch im Wohnzimmer durchsucht Silvia Gingold ihre Akten, liest Sperrerkl‰rungen vor, zeigt die Schw‰rzungen. Dicke schwarze Balken ¸ber jeder Zeile, ¸ber fast jedem Wort. Zu lesen ist oft nur ihr Name und ein Datum. Als Grund steht da auch: Weiter O-Ton 30, Silvia Gingold .... zudem handelt es sich um hochsensibles Aufkommen, da die Informationen aus persˆnlichen Gespr‰chen gewonnen wurden oder: Wurde geschw‰rzt aufgrund von schutzw¸rdigen Belangen Dritter, in Klammer: Quellen-Bezeichnungen, Namen anderer Personen, Bezeichnungen der Beobachtungsobjekte .... Erz‰hlerin Sie engagiert sich im Kasseler Friedensforum. Das taucht in den Akten konkret auf. O-Ton 31, Silvia Gingold .. es wird gebeten von oben genannten Personen folgendes zu ermitteln, abzuklären bzw. zu beschaffen und dann ist hier angekreuzt: vollständige Personendaten, Meldedaten, Lichtbild und unter sonstiges steht: die beschafften Lichtbilder BITTE vor ‹bersendung Zwecks Identifizierung der Personen als Teilnehmer von Veranstaltungen des Kasseler-Friedens-Forums vorlegen. Erz‰hlerin Für ihren Anwalt Otto Jäckel sind die Sperrerklärungen ein Hinweis, dass Informanten eingesetzt werden. Von "Beifang" kann für ihn da keine Rede sein. O-Ton 32, Otto J‰ckel ... das deutet darauf hin, dass es mˆglicherweise nicht nur einen sondern eine Vielzahl von Informanten gibt, die den Verfassungsschutz mit Informationen versorgen. Vielleicht auch hauptamtliche Mitarbeiter des Verfassungsschutzes selbst, aber auch vielleicht informelle Mitarbeiter, die gegen Geld dann vielleicht die Lesereisen von Frau Gingold begleiten und dort im Zuschauerraum sitzen und vielleicht mit Aufnahmeger‰ten das alles aufnehmen, was sie dort sagt. Oder mitschreiben und dann anschlieflend Spitzel-Berichte dar¸ber anfertigen. Davon muss man ausgehen. O-Ton 33, Silvia Gingold Das hat schon was mit mir gemacht. Ich bin nach wie vor politisch aktiv und werde auch nichts ‰ndern und trotzdem bringt das eine Form von Misstrauen mit sich, dass ich nat¸rlich immer auch im Hinterkopf habe, kˆnnte das jemand sein der irgendwelche Informationen weitergibt. Erzählerin Sie ist bei Kundgebungen gegen die AfD, beteiligt sich an Mahnwachen gegen den Syrien-Krieg, demonstriert gegen Missst‰nde in der Bildungspolitik. Und liest immer wieder aus der Biografie ihres Vaters. Im Urteil wird eine Lesereise explizit genannt: die vom Oktober 2011 in Bayern - organisiert von der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten", kurz VVN-BdA, wie die Vereinigung heute komplett heiflt. Auch hier mache Silvia Gingold mit ihren Auftritten Werbung f¸r eine linksextremistisch beeinflusste Organisation, urteilt das Gericht: Zitator Urteil Die VVN-BdA ist als linksextremistisch beeinflusste Organisation langj‰hriges Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. Daran ‰ndert nichts, dass die VVN-BdA in den j¸ngsten Verfassungsschutzberichten des Bundes und des Landes Hessen nicht mehr aufgef¸hrt ist. Atmo 10 - VVN 10 A Sprecher Berlin, Stadtteil Lichtenberg. Das Bundesb¸ro der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Erzählerin Im Flur stapeln sich Kartons mit Brosch¸ren und Flyern: Gegen Rechts, gegen die AfD, gegen Neonazis. Im Besprechungsraum stehen Zeitzeugenberichte in Zweierreihen im Regal. Das Bundesb¸ro hat Hans Coppi gefragt, ob er das Gespr‰ch ¸bernehmen will. Coppi, 76, ist Ehrenvorsitzender der VVN, seine Eltern waren in der Widerstandsgruppe "Rote Kapelle" aktiv - sie wurden vom Naziregime hingerichtet, da war er noch kein Jahr alt. Er ist bei seinen Grofleltern in Ost-Berlin aufgewachsen, war einige Jahre Parteisekret‰r der SED, forschte an der Akademie der Wissenschaften der DDR, war nach 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkst‰tte Deutscher Widerstand. Er kennt die wechselvolle Geschichte der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes". Und erkl‰rt erst einmal, warum diese bei ihrer Gr¸ndung ¸berparteilich und offen f¸r alle sein sollte. O-Ton 34, Hans Coppi ... es kreisten nat¸rlich auch immer wieder die Diskussion darum, wie konnte es ¸berhaupt dazu kommen und was sollten wir denn als ‹berlebende an Schlussfolgerungen ziehen. Und eine Schlussfolgerung war, dass man davon ausging, dass es jetzt nicht mehr um die Herkunft geht, ob der eine in der SPD oder KPD oder gar keiner Partei oder christlich war oder j¸disch, sondern alle hatten unter diesem Nazi-Regime zu leiden, sie hatten alle grˆfltenteils auch Verluste, das heiflt Angehˆrige hatten diesen Krieg und die Verfolgung und den Terror nicht ¸berlebt. Erzählerin Schon kurze Zeit sp‰ter ger‰t die Vereinigung aber zwischen die Systeme. O-Ton 35, Hans Coppi Die Besatzungszonen setzten auch die Politik ihres Landes um. Die Regierung hatte sich gewandelt und schlug dann auch zum Beispiel auf die SPD durch, wo man gewissermaflen die VVN damals so als eine Organisation wahrnahm wo mehr Kommunisten organisiert waren. Das war aber auch nat¸rlich darauf zur¸ckzuf¸hren, dass die KPD auch in ihren Reihen die grˆflten Verluste zu verzeichnen hatte und der Widerstand, auch in der Zeit 33 bis 45, immer wieder auch von Kommunisten forciert wurde, teilweise in Gemeinschaft mit Sozialdemokraten und, und, und .... Erzählerin Im Westen kritisiert die SPD, dass die VVN zu sehr von Kommunisten gepr‰gt sei und beschlieflt die Unvereinbarkeit: Man kann nicht mehr in der SPD und gleichzeitig in der VVN sein. Viele Nicht-Kommunisten treten daraufhin aus. 1959 versucht das Innenministerium die VVN als kommunistische Tarnorganisation zu verbieten, scheitert aber am Verwaltungsgericht. Auch im Osten hat es die Vereinigung schwer. Erst wird sie von der SED vereinnahmt - und 1953 schliefllich vom Zentralkomitee aufgelˆst. Die DDR versteht sich als antifaschistischer Staat. Antifaschismus gilt in der DDR als Staatsdoktrin. Da braucht es aus Sicht der SED keine eigenst‰ndige Vereinigung der Verfolgten. O-Ton 36, Hans Coppi Damit verlor ja die VVN praktisch, die Verfolgten, verloren damit eine eigene Stimme die sie hatten, ja, und zwar gab es dann ein Komitee der Antifaschistischen Widerstandsk‰mpfer. Was das aber nicht wirklich ersetzen konnte. Das Komitee der Widerstandsk‰mpfer war eigentlich eine verl‰ngerte Abteilung oder Ressort des Zentralkomitees der SED. Erzählerin Hans Coppi war Mitglied im Komitee der Antifaschistischen Widerstandsk‰mpfer. Die grofle Erinnerungskultur war Sache der Partei, sagt er. Der "Tag der Opfer des Faschismus", jeder zweite Sonntag im September, diente immer mehr der Mobilisierung f¸r den Sozialismus. Nach Coppis Eltern wurden Schulen benannt. In der DDR wurden sie als antifaschistische Helden verehrt. In der Bundesrepublik galten sie als Landesverr‰ter. O-Ton 37, Hans Coppi Und eines ist eben auch der Umgang mit dem Antifaschismus, der bei allem Engagement auch darunter gelitten hat, dass er zu sehr politisch war. Und wenn ich mich erinnere, wor¸ber habe ich gesprochen, ja nat¸rlich ¸ber die Geschichten die ich von Freunden meiner Eltern weifl. Aber es war gewissermaflen immer auch eine Auseinandersetzung von mir, mit dem was im Westen war, weil da die Gestapo-Leute, oder auch die Richter des Reichsgerichtes, ja nie belangt wurden für das, war für mich gewissermaflen auch die Grenze, eine Grenze die für mich auch war. Erzählerin Während die SED die VVN in der DDRauflˆst, unterstützt sie die Vereinigung im Westen finanziell. O-Ton 38 Johannes Tuchel Die VVN hat bis 1989, soweit ich es weifl, eine Finanzierung aus der DDR bekommen. Und dann w¸rde ich nicht sagen, es ist linksextrem unterwandert gewesen, sondern Entschuldigung, das ist dann eine unmittelbare Einflussarbeit des anderen deutschen Staates gewesen ... Erzählerin Johannes Tuchel, Politikwissenschaftler und Leiter der Gedenkst‰tte Deutscher Widerstand in Berlin. O-Ton 39, Johannes Tuchel Sie haben bestimmte Verlage gehabt, wie den Rˆderberg-Verlag, der damals komplett aus der DDR finanziert worden ist. Sie haben die Zeitschrift "Die Tat" der VVN gehabt, die, sagen wir mal, zu groflen Teilen aus der DDR finanziert worden ist. Und sie haben die VVN gehabt, deren Funktion‰re finanzielle Unterst¸tzung aus der DDR erhalten haben. Das wusste man, das war bekannt. Erzählerin Ost gegen West. Kommunismus gegen Kapitalismus. Der kalte Krieg. Was war Propaganda, was reale Bedrohung? Der Historiker Dominik Rigoll O-Ton 40, Dominik Rigoll Ich glaube, selbst in den offiziellen Diskursen, meinetwegen im Verfassungsschutzbericht, wird eigentlich immer betont, wie schwach die Kommunisten sind. Das ist in den 70er-Jahren ganz anders, als in den 50er-Jahren noch. Anfang der 50er Jahre, da waren die Kommunisten auch schwach, da hat man so getan als w¸rde der Iwan hier gleich im Wohnzimmer stehen und man hat meines Erachtens ganz bewusst so getan als st¸nde ein kommunistischer Aufstand bevor und ein Angriff der Roten Armee. Und vor diesem Hintergrund hat man Westdeutschland wiederbewaffnet und die KPD verboten. Erzählerin Der hessische Landesverfassungsschutz argumentiert bei der Einordnung der VVN mit deren Faschismustheorien - und mit dem "Schwur von Buchenwald", den die befreiten Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald am 19. April 1945 bei einem Gedenkappell f¸r die Ermordeten verlesen. Zitator Schwur von Buchenwald Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehˆrigen schuldig. Erzählerin In Buchenwald hatte das NS-Regime viele politische Gegner inhaftiert, Antifaschisten aus ganz Europa: kommunistische Widerstandsk‰mpfer, K¸nstler, Politiker, Literaten - sp‰tere Nobelpreistr‰ger. Sie organisierten sich im Lager, gr¸ndeten ein illegales Komitee. Die DDR hat diesen kommunistischen Widerstand innerhalb des Lagers lange ¸berhˆht. Der Schwur von Buchenwald wurde zu einem antifaschistischen und antikapitalistischen Gr¸ndungsmythos der DDR. O-Ton 41, Silvia Gingold Den Nazismus mit den Wurzeln auszurotten, und das heiflt, im Grunde genommen auch die Ursachen des Faschismus aufzuzeigen, die im Kapitalismus gesehen werden. Was aber nicht heiflt, dass der Kapitalismus automatisch zum Faschismus f¸hrt, aber in dem Fall war es so. Erzählerin Der Verfassungsschutz zieht daraus einen R¸ckschluss und erkl‰rt: Zitator Schriftsatz Die VVN-BdA beruft sich (...) auf den "Schwur der H‰ftlinge von Buchenwald", der sich wiederum auf die, in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte, kommunistische Faschismustheorie st¸tzt. Diese bezeichnet den Kapitalismus als eigentlichen Urheber des Faschismus. "Demokraten" seien demnach nur jene, die sich im Sinne dieser Theorie als "Antifaschisten" bet‰tigen. Konkludent lehnt der Verband also die "kapitalistische", mithin freiheitlich demokratische Grundordnung ab. Erzählerin Der hessische Landesverfassungsschutz definiert die freiheitlich demokratische Grundordnung als "kapitalistische" Grundordnung. Dabei gibt das Grundgesetz keine bestimmte Wirtschafts- oder Gesellschaftsform f¸r Deutschland vor. O-Ton 42, Silvia Gingold Nat¸rlich wollen wir auch Ver‰nderungen in der Gesellschaft, aber nat¸rlich nur mit Mehrheiten und nat¸rlich nur im Rahmen des gesetzlichen Rahmens. Und es gibt ¸berhaupt keinen konkreten Nachweis, wo sich die VVN irgendwo verfassungswidrig verhalten h‰tte. Das sind Behauptungen oder Unterstellungen, die in keinster Weise juristisch oder sonst irgendwie legitimiert sind .... Erzählerin Peter und Ettie Gingold haben nach der Hitler-Diktatur, nach Verfolgung und Flucht auf ein besseres Deutschland gehofft. F¸r sie lag diese Hoffnung in einem anderen Gesellschaftssystem. 1989 f‰llt die Mauer. O-Ton 44 a, Silvia Gingold (...) Meine Eltern haben das sozusagen als ein R¸ckschlag in der Hoffnung einer besseren Gesellschaft gesehen ... Erz‰hlerin [oc] In der Familie Gingold wurde viel aufgearbeitet und diskutiert, erinnert sich Silvia Gingold. O-Ton 44 b, Silvia Gingold [oc] ... viele Menschen sind arbeitslos geworden, die soziale Situation hat sich vehement verschlechtert. Insofern gab es eigentlich nicht nur Positives zu sehen, weil es aus unserer Sicht nicht nur um die sogenannte Befreiung der Menschen ging, sondern viele waren durch ihre Arbeitslosigkeit alles andere als frei. Die Mieten sind gestiegen, soziale Zusammenh‰nge sind zerbrochen. Von daher muss man auch die andere Seite der Vereinnahmung der ehemaligen DDR sehen. Erzählerin Auf der Homepage des Bundesamts für Verfassungsschutz gibt es die Rubrik "H‰ufig gestellte Fragen". Frage Vier lautet: Was ist der Unterschied zwischen radikal und extremistisch? Das Bundesamt erkl‰rt dazu: Zitator Homepage Verfassungsschutz ‹ber den Begriff des Extremismus besteht oft Unklarheit. Zu Unrecht wird er h‰ufig mit Radikalismus gleichgesetzt. So sind zum Beispiel Kapitalismuskritiker, die grunds‰tzliche Zweifel an der Struktur unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ‰uflern und sie von Grund auf ver‰ndern wollen, noch keine Extremisten. Radikale politische Auffassungen haben in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz. Auch wer seine radikalen Zielvorstellungen realisieren will, muss nicht bef¸rchten, dass er vom Verfassungsschutz beobachtet wird; jedenfalls nicht, solange er die Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung anerkennt. Musik-Ausschnitt Lied Hannes Wader Erzählerin Silvia Gingold hat bei Gericht die Zulassung der Berufung beantragt. O-Ton 47, Silvia Gingold Es ist ja so, dass ich nicht unbedingt darauf bedacht bin, immer im Rampenlicht zu stehen. Aber ich sp¸re, dass ich das nicht nur mir, sondern vor allen Dingen auch meinen Eltern schuldig bin. Ihnen war es ganz wichtig, die Erinnerung wach zu halten und das wof¸r sie gek‰mpft haben, dass das nicht vergebens war. Erz‰hlerin Weder das hessische Landesamt f¸r Verfassungsschutz noch ein Vertreter des Bundesamtes waren zu einem Interview bereit. Das Bundesamt schrieb in seiner Absage-Email, das Amt w¸rde einfach zu viele Interviewanfragen erhalten. Absage Unter Beobachtung Silvia Gingold und ihr Kampf gegen den Verfassungsschutz Ein Feature von Christine Werner Es sprachen: Hildegard Meier und Axel Gottschick Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Roman Weingardt Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2019. 1

02.04.2019.


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